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POEM der Woche

Aus: Späte Visionen (Arbeitstitel)
Autor: Gregori Latsch


***

Marcian und das letzte Wort

In seinem Pavillon, im Garten, umgeben vom
Gezwitscher bunter Vögel, sitzt Marcian und
spielt mit Wörtern, die er, so mir-nichts-dir-
nichts, in Gedanken rollen läßt, bis sie, vor
einem Abgrund angekommen, von ihm zurück-
gehalten werden – und das geschieht an jedem Tag.

Wer hat ihm aufgetragen, dieses Spiel zu spielen!
Er lächelt, zuckt nur mit den Schultern, und
fragt sich insgeheim, was mit den ungezählten
Wörtern geschieht, wenn sie mit einem Male
in den Abgrund stürzen. Wem ist damit gedient!
Und wer wählt jene Worte aus, die uns verloren-
gehen sollen – oder nicht?! Wie tief ist dieser Ab-
grund – und wie lang der Sturz?

Und wenn es jemand ist, der unsere Sprache sterben
lassen will – nur in Gedanken, und an jedem Tag,
was Marcian bezeugen kann, der immer nur im
letzten Augenblick die Wörter vor dem Absturz
in das Nichts bewahrt. – Ist Marcian der Retter
unserer Welt? Und ist, solange wir mit Wörtern
reden, die Einigkeit geschaffen mit jenen, die
uns täglich vor dem großen Fall in das Vergessen
retten. – Das schönste Reden findet mal sein Ende.
Was wäre unser Leben ohne jedes Wort!
Wem käme unser Schweigen denn gelegen?!

 

***

Corrida de Toros. 10. September 1967
Plaza de Toros de Madrid. – November 2017


Das Warten, doch worauf?, bewegungslos
in einer Box, ist überstanden. Das Tor ist frei!

El Toro springt in die Arena, sieht sich
erschrocken um, kein Grün!, und stürzt sich,
wild entschlossen, auf den Schatten eines Menschen.
Und Staub, und Sand, und erste Wut wird
bald zu einem grausamen Gemisch.

Und überall im weiten Rund plärrende Menschen.
Und auf dem Platz, nur einen Steinwurf weit,
ein Mann, der wie geziert in seine Richtung
sieht, und der ein rotes Tuch wie eine Fahne
vor sich trägt, und dessen Unbeweglichkeit und
Stille der Auftakt ist zu einem schweren Kampf.

Das rote Tuch in seinen Augen fordert ihn heraus.
Es flackert wild im Sonnenlicht. Der Stier versteht
es nicht, er rast dem roten Schein entgegen,
verpaßt ihn nur um einen Augenblick.

Er weiß noch nicht, daß das Vergnügen eines
Kampfes im Auge seines Feindes liegt.

Der schlanke Mann in seiner schönen Kampfmontur
weiß, was er will – den Tod des Stiers. Davor
zeigt er, zur Freude seines Publikums, wie so
ein großes schwarzes Tier gedemütigt und in die
Knie gezwungen werden kann. Und das geschieht
ganz ohne Kampfgeschrei. Mit List, nach Menschenart.

Der Stier ist müde, aus seiner schwarzen Haut
tropft Blut – im Nacken stecken spitze Spieße
mit Widerhaken; und immer noch stürzt sich
das Tier mit einer wilden Wut auf jene
unbewegliche Gestalt, die nur der Sonne aus
dem Wege geht.

Und ganz allmählich bahnt sich schon das Ende an.
Der Stier hört keine Laute mehr. Es ist so still im
weiten Rund. Wie gern er jetzt auf einer grünen Weide wär.

Ein letztes Flackern dieser schrecklich roten Fahne lockt
ihn an. Er wartet noch, sinkt in die Knie, steht auf; das
Flackern endet nicht, ein Blitzen blendet ihn – der Degen
des Toreros sammelt sich – zum Todesstoß. Jetzt wird es
still um ihn herum. Was wird geschehn! – Er stürmt nach
vorn, und wieder nimmt sein Auge nur die rote Fahne
wahr, und während er den müden Kopf fast schon
besiegt nach unten senkt, bohrt sich der Degen des
Toreros tief ins Schulterblatt – der schwere Körper fällt
aus seinem Gleichgewicht. El Toro est muerte. Ein einziger
Jubelschrei kommt von den Rängen, Applaus, der beiden
gilt – dem Sieger und Besiegten, in einem Kampf, der
kein Erbarmen kennt.

 

Anmerkungen zu dem vorstehenden Text:
Der obige Stierkampf ist authentisch.
 Im Herbst 1967 befand sich der Autor Gregori Latsch
mit seiner Lebensgefährtin in einem VW-Käfer auf Europafahrt,
die quer durch Spanien und Frankreich führte.
Darüber liegt ein noch unbearbeitetes MS vor, aus dem der Text über die
Corrida de Toros vom 10.9.1967 stammt, dem der Autor im November 2017
seine endgültige Form gab.

 
 

 

Gregori Latsch's

poetische Beschreibung unserer Welt
In einem bibliophilen Buchprogramm mit
zauberhaften Unikatausgaben -
unter dem Motto: Schöner kann Literatur nicht sein

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