Notwendige Erinnerungen
Geboren in der Zeit neuer wilder Horden von
diszipliniertem Format, Anhänger des Stechschritts, Gläubige der
Unvernunft und der Intoleranz. Namen sind nicht der Rede wert.
1939. So beginnen wir unsere Tage.
Mit dem Schrecken der Bombardierung gelebt.
Das Haus am Bahndamm – von einer Luftmine zerstört, und alle
Erinnerungen im Innern unseres Herzens. Ausgebombt!
1945. Das Jahr, in dem die
Kindheit ihren Sinn verlor. Und Orpheus sich verirrte – im
Labyrinth der Zeit.
Aufgewachsen in der beengten Fülle einer
proletarischen Familie, sieben lebende Kinder von acht geborenen.
Das Lied von der Mutterliebe singen und schweigen gehört. Streit.
Soziale Armut. Geistige Unbe- kümmertheit. Politische Apathie.
1950. So verbringt man seine Tage.
Großgeworden in den Tagen der Autorität.
Durch der Hände Arbeit zum Überleben beigetragen. Wegen
unerwünschten Verbesserungsvorschlägen vor den Vorstand zitiert.
Den Begriff „irrational“ erklärt. Böse Kommentare geerntet. Dem
Vater die Gedanken erschüttert. Die Wirklichkeit in Kinosälen
erfahren. 1955. So verbringt
man seine Tage.
Vor dem Absprung ins Wasser umgekehrt und
dem Willen, zu überleben, ein Schnippchen geschlagen. Der Ära der
Anpassung gehuldigt. Dabei seinem Worte treu geblieben; ohne zu
verhungern – im geistigen Reichtum ertrunken. Von den
inkommensurablen Gedanken alter Freunde gezehrt. Laotse, Sokrates und
Schopenhauer. Angepaßt geblieben, um zu überleben.
1960. So verbringt man seine Tage.
Aus der Provinz geflüchtet, in die Welt
geistiger Halbheiten. Dem Durcheinander städtischer Ent-
wicklungen gewichen. Cliquen verlassen, von alten Freunden ermahnt,
zu dem Schoß des Lebens zurückzufinden. Die Natur begriffen und
darüber geschwiegen. 1965. So
verbringt man seine Tage.
Das Alleinsein aufgegeben. Dem Planeten neue
Gesichter beschert. Vom angepaßten Rhythmus nicht abgewichen. Aus
der Wut früher Erkenntnis auf die Straße gegangen, demonstriert,
diskutiert, fotografiert. Alte Ansichten der Kommu- nikation
erneuert. Ideologien in den geistigen Hinterhof verbannt. Eine
Idee zurückbehalten. Für später. 1970
So verbringt man seine Tage.
Dem zerstörenden Trott der Existenzsicherung
in die Fresse gespuckt. Alte Kampftechniken wieder aufgenommen. Budo
und Zen. Den Willen der 60er Jahre erneuert. Von dem errichteten
Berg der Ideen einige Brocken abgetragen und ins Land geworfen. Im
Wald der toten Bäume liegen sie nun herum. Den Himmel gebeten, die
Kronen der Bäume zu kappen. Eine Antwort steht noch aus. Die
Wirklichkeit in den Griff bekommen. Von der Geduld einen großen Preis
erhalten. Das Geld auf die Bank getragen: Cimarron ’77. Der
Sklave hat seine Freiheit zurückerhalten. Die neuen Peitschenhiebe
gehen tiefer ein. Allein geblieben, ohne allein zu sein.
1979
Nun fragen mich die Tage, wohin das noch
führen soll.Aus welchen Gründen auch immer die Welt des Kapitals
gewählt, den freien Mann gespielt: Einrichter von Praxen und Büros
– etcetera. Und die Ideen des Schreibens auf die lange Bank
gelegt. So arrangiert man sich mit seinem Selbst.
1985 Die schönen frühen Träume
sind heimlich emigriert.
Allmählich werden die Gedanken schwerer, und
das Herz springt immer noch der Liebe und dem Leben hinterher.
Wie schnell das Alter uns erreicht. Und auf den Konten reift der
Wunsch, aufs Land zu ziehen. Mit neuen Freunden einen neuen Kreis
gewagt: Cimarron art, das Buch bleibt unser größter Mythenschatz.
1995 Was täglich aus den Sternen
fällt. Ein Medium besinnt sich der Ideen.
Mit guten Partnern überlebst du jede Zeit.
Und wie geplant aufs Land, ins eigene Haus gezogen. Und immer noch
verbunden mit Helen. Und eines Tages glaubst du dann an dich und
siehst viel tiefer in das eigene Ich.
2001 Die Götter haben mir verziehen. Nun weiß ich, wie man
mit Gedanken überlisten kann. War das der Abschied von der
Kindheit wert?
2004 Was
für ein langer Weg in dieser kurzen Zeit! Ich habe nichts
dazugelernt, und warte auf das letzte große Wort. Das soll an
diesem Tag die Liebe sein.
Nach sieben Sommern auf dem Land vom eigenen
Besitz getrieben. Es gibt sie noch, die bösen Hinterwäldler,
besonders auf dem flachen Land. Schon achtzehn Mal von Stadt zu Stadt
gezogen, und dieses Mal in einer Metropole eingekehrt: Berlin.
2007 Das
war ein Irrtum! Berlin ist (k)eine Reise wert. Die Stadt ist laut,
zu weit gedehnt, und hohe Mieten sind kein freundliches Signal.
Und immer noch lebt jeder an dem anderen vorbei. Du lebst dich arm
in einer solchen Stadt. Auch wenn die Assoziationen unermeßlich sind;
was dich beglückt, kommt doch nur aus dir selbst.
2009 Aufs
Land zurückgekehrt, zu der Idee der schönen Bücher. Cimarron
libris, exquisit. Und in der Trilogie poetischer Gedanken einen
neuen Sinn gefunden – zu überleben in der Zeit.
2011 Die
Tage zählen wir nicht mehr. Und unser Staunen über diese Welt hat
sich schon lange abgekühlt. Und manche alte Frage versteckt sich
immer noch in unserer Hinterhand: Sind war ganz sicher wir? Und
bleiben wir auch, wer wir sind?
2014 Mit
fünfundsiebzig Jahren ruht das Leben sich allmählich aus, greift
nicht mehr gern nach einem neuen Bild, sieht sich die alten Bilder
an. Und doch, wie es auch immer weitergehen mag, der Wille ist so,
wie er immer war, ein Teil des anderen Ichs – und unberechenbar.
Was ist das, was uns vorwärts treibt und
nicht mehr ruhen läßt? Die Zeit? Und wer hat sie uns in den Schoß
gelegt? Was bleibt von dieser Welt, wenn wir uns nicht verstehn?
Ein kalter runder Stern, mit Wasser vollgefüllt? Und irgendwann, der
Himmel weiß, warum, wird dieser Zauber unserer Phantasie, auch
blauer Stern genannt, mit seiner letzten Lebenslast in Würde
untergehn.
Das war‘s, Poet! Und was noch kommt, du weißt es
nicht. Die Lust, stark wie ein Mensch zu sein, bleibt uns noch
lange treu. Ist das der Grund, warum wir so verletzlich sind?
2022 Ist das der Abschied – doch wovon? Acht Jahre
sind vergangen, schon lange über achtzig – noch nie daran gedacht.
Mit einer wunderbaren Leichtigkeit die Frage auf den Punkt gebracht:
War alles nur ein Irrtum vor der Zeit? Von wem auch immer ausgedacht.
Das ist kein Fabulieren, wie es uns gefällt, das kommt aus einem
anderen Bereich, der uns sehr spät erst ins Bewußtsein fällt – und
uns ein großes Staunen hinterläßt.
Und dann den Engel schickt
– zu einem Flirt?!
Ist das die Macht, die auch Corona hat ins
Spiel gebracht, die alles lenkt, warum? Wir wissen‘s nicht. Und auch
dem Alter fällt es schwer, daran zu glauben, daß der poetische
Gedanke seinen Sinn verliert.
Aus: Gib acht, mein Herz Reihe: Cimarron
bibliophil Autor: Gregori
Latsch
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